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Dr.
phil. Peer Heinelt
Ein kleines Bergen-Belsen
Geschichtspolitik in Niedersachsen: Kommune
und Landkreis verhindern Gedenkstätte in Sandbostel
Der Chronist der britischen Grenadier Guards war wütend
und schockiert: In Anlehnung an das KZ Bergen-Belsen bezeichnete
er das von seiner Truppe am 29. April 1945 befreite Kriegsgefangenen-
und KZ-Auffanglager Sandbostel bei Bremervörde als „minor
Belsen“. Die vorgefundenen Zustände spotteten jeder Beschreibung:
7000 KZ-Häftlinge - viele von ihnen todkrank - waren dabei
zu verhungern; der Gesundheitszustand eines großen Teils der
14000 alliierten Kriegsgefangenen war ebenfalls sehr schlecht. Die
Wut der britischen Fronttruppen wurde noch dadurch gesteigert, daß
Wehrmacht und SS mit aller Macht versucht hatten, ihren Vormarsch
zu stoppen und die Befreiung des Lagers zu verhindern. Es verwundert
daher nicht, daß sie zuerst beabsichtigten, die verbliebenen
Angehörigen der Wachmannschaft zu erschießen und den
Ort Sandbostel sowie einige Dörfer in der Umgebung niederzubrennen.
Obwohl die Anwohner des Lagers von der Zwangsarbeit
der Kriegsgefangenen auf ihren Bauernhöfen profitiert hatten,
empfanden sie zumeist kein Mitgefühl für die Geschundenen.
Der an sie ergangene Befehl, die Gefangenen zu versorgen und die
Kranken unter ihnen zu pflegen, konnte von der britischen Besatzungsmacht
nur mittels Androhung von Repressalien durchgesetzt werden. Verantwortungs-
und Erinnerungsabwehr bestimmen in Sandbostel und Umgebung bis heute
das Verhältnis zur NS-Vergangenheit. Mit Unwissenheit kann
sich dabei niemand herausreden: 1991 legten Klaus Volland und Werner
Borgsen eine umfangreiche Studie über das Lager vor; ein Jahr
später entstand der Verein „Dokumentations- und Gedenkstätte
Sandbostel“, der in Bremervörde ein Büro unterhält,
mit einer Ausstellung über die Geschichte des Lagers informiert
und Führungen über das Lagergelände anbietet. Das
primäre Anliegen des Vereins, dort eine Gedenkstätte einzurichten,
scheiterte allerdings bisher stets am Widerstand staatlicher und
kommunaler Gremien.
Die Entwicklung des „Stammlagers“ (Stalag)
Sandbostel im Wehrkreis X spiegelt den Verlauf des Zweiten Weltkriegs
wider: Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September
1939 waren hier vor allem polnische Soldaten interniert, die anfangs
noch in Zelten hausen mußten. 1940 kamen belgische und französische
Kriegsgefangene hinzu, 1941 Jugoslawen und Rotarmisten. Nach dem
Sturz Mussolinis 1943 trafen die ersten Transporte italienischer
„Militärinternierter“ ein; in der Folge des Warschauer
Aufstands 1944 waren dann auch Polinnen kurzfristig im Lager Sandbostel
eingesperrt. Die sowjetischen Gefangenen standen in der von den
Deutschen erdachten Lagerhierarchie ganz unten; die Genfer Konvention,
die die Behandlung von Kriegsgefangenen regelt, hatte für sie
keine Gültigkeit. Briefkontakt zu Angehörigen in der Heimat
war ihnen untersagt; bei minimaler Verpflegung mußten sie
Schwerstarbeit leisten; die Delegationen des Internationalen Roten
Kreuzes, die regelmäßig das Lager besuchten, bekamen
sie nie zu sehen. Tausende von ihnen starben an vermeidbaren Krankheiten,
Unterernährung oder in Folge der mörderischen Schikanen
des Wachpersonals.
Die Raum- und Verpflegungssituation verschärfte
sich Mitte April 1945, als die SS begann, Tausende von Häftlingen
aus dem KZ Neuengamme und seinen Außenlagern auf Todesmärschen
nach Sandbostel zu treiben. Seit Oktober 1944 hatte sie hier ohnehin
das Sagen: Verantwortlich für alle Lager im Wehrkreis X war
ab diesem Zeitpunkt der SS- und Polizeiführer von Bassewitz-Behr.
Die Wachmannschaft wurde jedoch in Form einer Stabs- bzw. Stammkompanie
weiterhin von der Wehrmacht gestellt. Ihre Angehörigen schlugen
noch kurz vor der Befreiung des Lagers, in der Nacht vom 19. auf
den 20. April 1945, eine Hungerrevolte der Häftlinge brutal
nieder: 300 ausgemergelte, verzweifelte Menschen wurden mit Maschinengewehren
buchstäblich über den Haufen geschossen.
Heute erinnert nichts an die Geschichte des Kriegsgefangenen-
und KZ-Auffanglagers Sandbostel. Bis 1947/48 nutzten die Briten
das Gelände mit seinen von den Häftlingen errichteten
Baracken als Internierungslager für SS- und NSDAP-Funktionäre,
dann wurde es Außenstelle des Zuchthauses Celle, ab 1952 Durchgangslager
für jugendliche DDR-Flüchtlinge. 1974 kam die Privatisierung:
Es entstand das „Gewerbegebiet Immenhain“. Die hier
ansässigen Firmen - unter ihnen der Militariahändler Edelmann
- nutzen seither die ehemaligen Lagergebäude als Geschäfts-
oder Lagerräume. Während der Gewerbepark weithin sichtbar
ausgeschildert ist, fehlt jeder Hinweis auf das „Stalag“
Sandbostel. Damit nicht genug: Als die 89jährige Marie Thomas
im November 2003 gemeinsam mit Angehörigen den Ort aufsuchen
wollte, an dem vor 60 Jahren ihr Mann zu Tode kam, wurde sie von
einem Mitarbeiter der Fa. Edelmann beschimpft, mit einer Holzlatte
bedroht und so zur Umkehr gezwungen.
Nämlicher Herr, der auf den Nachnamen Siemens
hört, gab auf Nachfrage unumwunden zu, nicht mehr funktionstüchtige
Lagerbaracken systematisch einzureißen und hielt es nicht
einmal für nötig, das zu diesem Zweck an einem Stützpfosten
befestigte Seil vor den Augen der Betrachter zu verbergen. Daß
die Baracken seit 1992 unter Denkmalschutz stehen, interessiert
weder ihn noch den zuständigen Landrat Hans-Harald Fitschen.
Auf die Frage eines Journalisten des niederländischen Fernsehsenders
KRO, was er denn in seiner Eigenschaft als Chef der unteren Denkmalschutzbehörde
für den Erhalt der Lagerbaracken tue, konnte Fitschen nur dümmlich
grinsen und mit den Achseln zucken. Auch was die Einrichtung einer
Gedenkstätte auf dem Lagergelände angehe, seien ihm die
Hände gebunden: „Das ist Privateigentum.“
Die Gemeinde Sandbostel stellt sich ohnehin strikt
gegen die Einrichtung einer Gedenkstätte. Hier hält man
es lieber mit dem „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“
und seiner geschichtsrevisionistischen Sicht des Zweiten Weltkriegs:
Der im Ort gelegene Friedhof für die Sandbosteler Kriegsgefangenen
und KZ-Häftlinge ist auf den Hinweisschildern des Volksbunds
als „Kriegsgräberstätte“ ausgewiesen. Bereits
frühzeitig entledigen konnte man sich des Ehrenmals, das die
sowjetische Militäradministration kurz nach Kriegsende für
die ermordeten Rotarmisten auf dem Friedhof errichtet hatte: Es
wurde 1956 auf Beschluß der niedersächsischen Landesregierung
gesprengt.
Literatur: Werner Borgsen u. Klaus Volland, Stalag
X B Sandbostel. Zur Geschichte eines Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers
in Norddeutschland 1939-1945, Bremen 1991.
Weitere Informationen: Dokumentations- und Gedenkstätte Sandbostel,
Großer Platz 4, 27432 Bremervörde, Tel./Fax 04761/746858,
Homepage: www.dokumentationsstaette-sandbostel.de.
Veröffentlicht in: Junge Welt v. 04.02.2004,
Nr. 27, S. 15.
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- Stand: Dezember 2004 |
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